Ethische Grundlagen
Ein Pandemieplan braucht ethische Leitlinien, die Chancengleichheit, Solidarität und den Schutz der Schwächsten sichern. Sie helfen, Entscheidungen in Krisen gerecht und nachvollziehbar zu gestalten.
Die Verfassung gewährleistet den Schutz der Grundrechte aller in der Schweiz lebenden Menschen. Die Abwägung unterschiedlicher Werte, die in der Entscheidungsfindung über in der Pandemie notwendige Massnahmen eine Rolle spielen, muss situationsspezifisch und unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände erfolgen.
Die ethischen Grundlagen schaffen dafür eine Basis, auch um das Vertrauen der Bevölkerung in die getroffenen Massnahmen zu stärken. Sie sollen als normative Leitlinie auch dazu beitragen, dass in Krisenzeiten grundlegende ethische Prinzipien einer solidarischen und humanen Gesellschaft erhalten bleiben. Die ethischen Grundlagen zeigen den nationalen und kantonalen Entscheidungsträgerinnen und -träger die wichtigsten Aspekte und Herausforderungen auf, die es zu bewältigen gilt, wenn die Massnahmen möglichst gerecht, transparent und verhältnismässig sein und die Solidarität zwischen den Menschen und die Würde aller Betroffenen gewahrt bleiben sollen.
Ethische Spannungsfelder
In einer Pandemie kommt es zu ethischen Spannungsfeldern. Diese entstehen aus der Unsicherheit darüber, nach welchen Werten man sich in komplexen Entscheidungssituationen orientieren soll. Die folgende Auflistung umschreibt mögliche Spannungsfelder und soll dabei helfen, Entscheidungen für oder gegen bestimmte Massnahmen zu treffen.
Gerechtigkeit und Fairness
- Verteilungsgerechtigkeit: Die gerechte Verteilung knapper Ressourcen wie Arzneimittel und Schutzausrüstung ist essenziell. Es ist wichtig zu definieren, wie und welche Prioritäten bei der Verteilung gesetzt werden (z. B. zuerst besonders gefährdete Gruppen, medizinisches Personal, systemrelevante Berufe usw.).
- Zugang zur Gesundheitsversorgung: Eine Pandemie kann bestehende Ungleichheiten im Zugang zur Gesundheitsversorgung verschärfen. Es sollte thematisiert werden, wie sichergestellt werden kann, dass alle Bevölkerungsgruppen einen gleichberechtigten Zugang zu Gesundheitsversorgung und Schutzmassnahmen haben – unabhängig von Sozialstatus, Einkommen, Alter oder der ethnischen Herkunft.
Transparenz und Ehrlichkeit
- Offene Kommunikation: Eine ethische Herausforderung ist die transparente Kommunikation über Risiken, Wirkungen von Massnahmen und eventuelle Fehlentscheidungen. Die Bevölkerung hat ein Recht auf ehrliche und aktuelle Informationen, um selbst möglichst informierte Entscheidungen treffen zu können. Ziel ist es, das Vertrauen der Bevölkerung in die Entscheidungstragenden zu erhalten, zu stärken und eine offene Diskussion zu fördern.
- Umgang mit Unsicherheit: Eine Pandemie ist oft durch Unwissen und Unsicherheit gekennzeichnet. Es gibt offene Fragen über den weiteren Verlauf und die besten Massnahmen. Daher ist es wichtig, diese Unsicherheiten offen zu kommunizieren, statt Sicherheit vorzutäuschen, wo keine besteht.
Autonomie und Selbstbestimmung
- Respekt vor individuellen Freiheiten: Massnahmen wie Isolation, Besuchs- und Ausgehverbote, Quarantäne, Lockdowns oder die Impfpflicht können tief in das Freiheitsempfinden der Menschen eingreifen. Ethische Überlegungen sollten darlegen, wie individuelle Freiheiten im Einklang mit dem Schutz der öffentlichen Gesundheit gewahrt bleiben und welche Massnahmen in welchen Situationen gerechtfertigt sind.
- Einwilligung zu medizinischen Massnahmen: Impfungen und medizinische Behandlungen sollten in der Regel auf freiwilliger Basis erfolgen. Falls es Ausnahmen gibt (z. B. Pflichtimpfungen), muss genau begründet werden, auf welchen Fakten, Annahmen und Werten diese Pflicht beruht und unter welchen Umständen welche Art von Zwang gerechtfertigt ist.
Verantwortung und Solidarität
- Verantwortung gegenüber anderen: Im Pandemiefall haben alle die ethische Verantwortung, zur Minimierung der Virusausbreitung beizutragen. Dies kann Massnahmen wie das Tragen von Masken, Impfen oder das Einhalten von Hygienemassnahmen umfassen. Wichtig ist der Dialog, wie die Gesellschaft diese Verantwortung fördern und unterstützen kann.
- Solidarität und Unterstützung von Schwächeren: In der Pandemie sind besonders gefährdete Personen auf den Schutz durch die Gemeinschaft angewiesen. Massnahmen sollten die Solidarität stärken, besonders schutzbedürftige Gruppen einbeziehen und ihre Versorgung und Unterstützung sicherstellen (siehe Chancengerechtigkeit). Es gilt zu bedenken: Je nach Art der Pandemie können unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen als vulnerabel, also als besonders schutzbedürftig, gelten.
Verhältnismässigkeit und Minimierung von Schäden
- Verhältnismässigkeit der Massnahmen: Massnahmen müssen in ihrem Umfang und ihrer Intensität immer im Verhältnis zur Bedrohung stehen. Strenge Massnahmen sollten nur dann ergriffen werden, wenn sie wirklich notwendig sind, und der Schaden, den sie verursachen, möglichst minimiert wird (siehe Verhältnismässigkeit und Folgenabschätzung). Solche Massnahmen müssen regelmässig evaluiert und angepasst werden.
- Negative Auswirkungen: Massnahmen können auch negative Folgen haben, z. B. psychische Belastungen durch Isolation, wirtschaftliche Schäden oder Einschränkungen des sozialen Lebens (siehe Auswirkungen). Diese Folgen sollten so gering wie möglich gehalten werden. Betroffene sollten wenn möglich Angebote zur Unterstützung erhalten.
Wissenschaftliche Integrität und Ethik in der Forschung
- Schnelle, aber ethische Forschung: In Pandemiezeiten stehen Forscherinnen und Forscher unter grossem Druck, rasch Impfstoffe, Interventionen und Therapien zu entwickeln. Ethische Grundsätze im Bereich der Forschung müssen thematisiert werden (Forschungsethik). Insbesondere sind die Versuchspersonen zu schützen. Forschende müssen bei ihnen immer eine informierte Einwilligung einholen.
- Zugang zu Forschungsergebnissen: Forschungsergebnisse und neue medizinische Produkte, die aus der Pandemieforschung hervorgehen, sollten der gesamten Menschheit zugutekommen und fair verteilt werden.
Ethische Verantwortung in der Entscheidungsfindung
Entscheidungsträgerinnen und -träger müssen sich ihrer ethischen Verantwortung bewusst sein, insbesondere wenn sie Massnahmen beschliessen, die das Leben und die Freiheit der Bevölkerung betreffen. Dazu gehören transparente und koordinierte Entscheidungsprozesse, die Solidarität der Kantone untereinander, aber auch der Austausch mit Nachbarländern. Bei solch komplexen Entscheidungsfindungen lohnt es sich, bereits bestehende Ethikkommissionen mit einzubeziehen.
Einbindung von Ethikkommissionen
Die nationalen Ethikkommissionen können die Behörden auch im Pandemiefall beraten, um ethische Fragestellungen zu klären und zu beurteilen. Die kantonalen Ethikkommissionen sind vor allem für die Umsetzung des Humanforschungsgesetzes zuständig und über swissethics, der Dachorganisation der Forschungsethikkommissionen in der Schweiz, eng vernetzt. Die Kommissionen liefern fundierte evidenzbasierte Einschätzungen und ethische Empfehlungen, auf deren Grundlage die Entscheidungen im Krisenmanagement getroffen werden. In einigen Spitälern der Schweiz gibt es zudem interne Ethikkommissionen, die lokal im Betrieb bei ethischen Entscheiden (z. B. Priorisierung bei der Zuweisung von IPS-Betten oder der rationierten Mittel) die Ärzte unterstützen können. Wo möglich und sinnvoll wird dabei auf bereits vorhandene Leitlinien, Empfehlungen oder Rahmenwerke zurückgegriffen.
Es ist wichtig, dass die Behörden genau festlegen, wie solche Kommissionen in den Prozess der Entscheidungsfindung, welche Massnahmen zu ergreifen sind, einbezogen werden. Beurteilungen durch Ethikkommissionen haben deshalb immer nur empfehlenden Charakter.
Um eine effiziente und kohärente Bearbeitung ethischer Fragestellungen zu gewährleisten, ist eine enge Koordination der Ethikkommissionen auf nationaler Ebene sinnvoll. Darüber hinaus wird auch ein internationaler Austausch als wertvoll erachtet, um von Erfahrungen und Erkenntnissen anderer Länder zu profitieren und gemeinsame ethische Standards zu fördern.
Prozedurale Transparenz
Die Entscheidungsprozesse im Bereich ethischer Fragen sollen so transparent wie möglich gestaltet werden. Dies umfasst eine schriftliche Dokumentation der Grundlagen, auf denen Entscheidungen beruhen, sowie eine verständliche Kommunikation der Entscheidungswege und -ergebnisse gegenüber der Öffentlichkeit. Prozedurale Transparenz, also eine offene und nachvollziehbare Verfahrensweise, ist essenziell, um das Vertrauen der Bevölkerung in die ethische Integrität der Entscheidungstragenden und Fairness der getroffenen Massnahmen zu stärken.
Langfristige Folgen und Prävention
Manche Pandemiemassnahmen haben langfristige Auswirkungen, z. B. auf Bildung, soziale Integration und mentale Gesundheit. Es gilt zu bedenken, wie ethische Abwägungen dazu beitragen können, langfristige Schäden zu minimieren und zukünftige Generationen zu schützen. Dies ist besonders wichtig im Hinblick auf die Erfahrung von Pandemien durch Kinder und Jugendliche, deren Gesundheit und Rechte priorisiert werden müssen.
Welche Verantwortung hat die Gesellschaft, um das Entstehen zukünftiger Pandemien zu verhindern? Antworten darauf sind beispielsweise die Anwendung des Konzeptes One Health, eine verantwortungsvolle Nutzung von Umweltressourcen, der Schutz der Biodiversität und der Aufbau von Wissen über strukturelle Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten.
Ethikkommissionen und ihre Funktion
Die Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin (NEK) in der Schweiz hat die Aufgabe, die Regierung, Institutionen und die Öffentlichkeit bei ethischen Fragen im Gesundheitswesen zu beraten.
Die Zentrale Ethikkommission (ZEK) der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) befasst sich mit berufsethischen Fragen (insbesondere von Ärztinnen und Ärzten) und verfasst Richtlinien, um den Gesundheitsfachpersonen somit ethische Grundlagen zum Handeln an die Hand zu geben.
Der Schweizerische Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK) ist die Berufsorganisation der Pflegefachpersonen in der Schweiz. Ihre Ethikkommission kümmert sich um ethische Fragen, die spezifisch im Pflegebereich auftreten.