Verhältnismässigkeit und Folgeabschätzung
Verhältnismässigkeit ist die zentrale Leitplanke, um angemessene Massnahmen zu definieren und negative Auswirkungen zu minimieren. Die Prüfung der Verhältnismässigkeit und die Folgenabschätzung ermöglichen Entscheide, die auch unerwünschte und längerfristige Auswirkungen mit einbeziehen.
Verhältnismässigkeit
Das Prinzip der Verhältnismässigkeit ist ein grundlegendes rechtsstaatliches Prinzip des Verwaltungsrechts. Zusammen mit dem Grundsatz des öffentlichen Interesses bestimmt es das konkrete Handeln der Verwaltungsbehörden und muss somit auch, ganz besonders angesichts der potenziell grossen Auswirkungen des staatlichen Handelns, in der Pandemiebewältigung angewandt werden.
Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit ist in der Bundesverfassung (BV) verankert. Art. 5 Abs. 2 BV hält fest: «Staatliches Handeln muss im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sein.» Zusammenfassend fordert der Artikel,
- dass Massnahmen geeignet und notwendig sind, um das im öffentlichen Interesse zu verwirklichende Ziel zu erreichen;
- dass Massnahmen in einem vernünftigen Verhältnis zu den Belastungen stehen, die der Bevölkerung oder Teilen von ihnen auferlegt werden.
Massnahmen zur Eindämmung einer Pandemie geschehen in der Regel unter hohem Druck, der – insbesondere in der Anfangsphase einer Pandemie – durch folgende Faktoren verstärkt wird:
- Unsicherheit: Unsicheres oder fehlendes Wissen über grundlegende Informationen wie Prävalenz, Übertragungswege, Morbidität und Mortalität der Infektion.
- Zeitdruck: Einige Massnahmen haben zum Ziel, die Ausbreitung eines Erregers zu verlangsamen oder zu verhindern und müssen daher rasch umgesetzt werden.
- Erwartungsdruck: Die Bevölkerung erwartet Klarheit, Sicherheit und Schutz bei gleichzeitig möglichst geringen Einschränkungen.
Verantwortungsträgerinnen und -träger müssen daher bereit und fähig sein, Unsicherheit zu akzeptieren und mit nicht gesichertem Wissen und unter Druck zu entscheiden und zu handeln. Dabei ist es für die Akzeptanz der Massnahmen wesentlich, unsicheres Wissen transparent offenzulegen und Entscheide basierend auf dem gegebenen Stand des Wissens herzuleiten und zu begründen.
Akteure des Prüfungsverfahrens
Die Prüfung der Verhältnismässigkeit und Folgen von Massnahmen beinhaltet stets Elemente, die einer subjektiven Einschätzung unterliegen. Vor oder in einer Pandemie beeinflussen zudem die oben genannten Faktoren Unsicherheit, Zeit- und Erwartungsdruck die Verhältnismässigkeitsprüfung. So müssen beispielsweise bei unklarer Bedeutung einzelner Übertragungswege Annahmen über die erwartete Wirkung von Massnahmen zur Prävention der Übertragung getroffen werden. Die Prüfung erfolgt unter hohem Zeitdruck und kann durch Entscheide benachbarter Länder (insbesondere bei Einreisemassnahmen) oder durch die Erwartungshaltung der Bevölkerung beeinflusst werden.
Es ist daher wesentlich, die relevanten Perspektiven folgender Akteurinnen und Akteure in die Prüfung der Verhältnismässigkeit und der Auswirkungen von Massnahmen mit einzubeziehen:
- Ein interdisziplinäres Team aus Fachleuten aus Verwaltung und Wissenschaft (bspw. Epidemiologie, Ethik, Sozialwissenschaften, Wirtschaft)
- Verantwortliche für die Umsetzung der Massnahmen: Bund, Kantone, Gemeinden, Gesundheitsversorger, aber auch Vertreter der Reisebranche bei Reisebeschränkungen, Vertreter der Eventbranche bei Einschränkungen von Veranstaltungen usw.
- Vertreterinnen und Vertreter von betroffenen Bevölkerungsgruppen mit einem zusätzlichen Augenmerk auf besonders vulnerable Gruppen (bspw. Bewohnerinnen und Bewohner von sozialmedizinischen Institutionen oder Personen mit schlechtem Zugang zu Informationen aufgrund mangelnder Kenntnisse einer Landessprache, tiefem Bildungsniveau oder kognitiven Beeinträchtigungen)
Prüfung der Verhältnismässigkeit
Massnahmen zur Bekämpfung einer Pandemie stellen in der Regel einen Eingriff in die von der Verfassung geschützten Grundrechte dar. Sie müssen deshalb immer den Vorgaben von Art. 36 BV, insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit, genügen. Die Prüfung der Verhältnismässigkeit von staatlichem Handeln umfasst gemäss Uhlmann (2019) diejenigen Schritte, die in der Checkliste Pandemiebewältigung: Prüfung der Verhältnismässigkeit aufgelistet sind. Die Prüfung der Verhältnismässigkeit ist insbesondere bei geringem Wissensstand eine Herausforderung, beispielsweise zu Beginn einer Pandemie. Entsprechend sorgfältig muss sie erfolgen. Dabei kann es hilfreich sein zu prüfen, welche Folgen aus einer Nichtergreifung einer Massnahme resultieren.
Folgenabschätzung
Die Verhältnismässigkeitsprüfung kann und soll angesichts der potenziell einschneidenden Konsequenzen von Massnahmen zur Pandemiebewältigung durch eine Prüfung der Auswirkungen von Massnahmen validiert und ergänzt werden. Gesundheitsfolgenabschätzungen (Health Impact Assessments) geben einen umfassenden Überblick über die Auswirkungen von Massnahmen. Dazu gehören auch unbeabsichtigte und negative Auswirkungen wie finanzielle Einbussen, Isolation und Einsamkeit, psychische Belastungen und Bildungsversäumnisse.
Umfassende Gesundheitsfolgenabschätzungen dauern mehrere Wochen bis mehrere Monate. Bei Zeitdruck kann eine sogenannte «Schreibtisch-Gesundheitsfolgenabschätzung» durchgeführt werden, bei der eine kleine Zahl von Stakeholdern vorhandenes Wissen austauscht, um geplante Massnahmen zu bewerten. Die Checkliste Pandemiebewältigung: Folgenabschätzung dient als Leitfaden, um Auswirkungen frühzeitig zu erkennen und bei den Entscheidungsgrundlagen zu berücksichtigen.
Folgende Leitplanken helfen, die negativen Auswirkungen von Massnahmen zu minimieren:
- Einbezug aller relevanten Perspektiven bei der Definition und Ausgestaltung von Massnahmen
- Einbezug der Betroffenen
- Einschränkende Massnahmen so gering und kurz wie möglich halten
- Schulschliessungen (inklusive Hochschulen und Universitäten) aufgrund der grossen negativen Auswirkungen (Bildungsdefizite, psychische Auswirkungen, häusliche Gewalt) möglichst vermeiden; wenn unumgänglich, dann möglichst kurz halten
- Besuchsverbote in sozialmedizinischen Institutionen aufgrund der grossen negativen Auswirkungen (Kontakt zu Angehörigen verunmöglicht) möglichst vermeiden
- Ausgehverbote vermeiden