Chancengerechtigkeit
Nicht alle Menschen sind gleichermassen von einer Pandemie betroffen. Die Vulnerabilität von Personengruppen wird durch körperliche, soziale, psychische und kognitive Faktoren bestimmt. Der Erfolg der Pandemiebewältigung ist nicht nur davon abhängig, möglichst rasch eine grosse Anzahl an Menschen zu erreichen, sondern auch davon, niemanden zurückzulassen.
Chancengerechtigkeit und Vulnerabilität
Alle Menschen sollen die gleichen Möglichkeiten zur Entwicklung, Erhaltung und falls nötig Wiederherstellung ihrer Gesundheit haben. Dies gilt auch in einer Pandemie. Eine Pandemie betrifft nicht alle Personen gleichermassen. Gewisse Personen oder Personengruppen haben weniger Möglichkeiten und Ressourcen, um mit den Herausforderungen einer Pandemie umzugehen und ihre Gesundheit zu erhalten. Sie werden als vulnerable Personen oder Personengruppen bezeichnet.
Vulnerable Personen oder Personengruppen haben ein erhöhtes Infektionsrisiko, ein erhöhtes Erkrankungsrisiko bzw. erhöhtes Risiko schwerer Erkrankungsverläufe und ein erhöhtes Risiko, von negativen Auswirkungen auf ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden (inkl. Langzeitfolgen) betroffen zu sein (siehe Auswirkungen).
Verschiedene Faktoren beeinflussen die Vulnerabilität. Dazu gehören körperliche (allgemeiner Gesundheitszustand, genetische Veranlagung), soziale sowie individuelle kognitive und psychische Belastungen und Ressourcen. Je nach dem wie diese Faktoren ausgeprägt sind und interagieren (kumulieren oder sich gegenseitig verstärken), können sie bewirken, dass bestimmte Personen oder Gruppen in einer Pandemiesituation gesundheitlich benachteiligt sind. Beispielsweise können sich Personen, die in engem Kontakt mit anderen leben oder arbeiten, schlechter vor einer Infektion schützen. Personen, die gesundheitliche Informationen und Massnahmen schlecht verstehen (sprachlich oder kognitiv) oder sich davon nicht angesprochen fühlen, schützen sich weniger oder erleben Hindernisse beim Zugang zur Gesundheitsversorgung. Personen mit Vorerkrankungen können anfälliger auf einen schweren Infektionsverlauf sein.
Folgendes Vorgehen trägt dazu bei, gesundheitliche Chancengerechtigkeit auch in der Pandemiesituation umzusetzen:
- Schritt 1: Analyse, welche Personen besonders vulnerabel sind und wodurch sich ihre erhöhte Vulnerabilität erklären lässt.
- Schritt 2: Prüfen, ob und wie Massnahmen zur Prävention und Versorgung auch vulnerablen Personen zugutekommen und wie sie angepasst werden müssen.
- Schritt 3: Im Massnahmen-Monitoring die Auswirkungen auf vulnerable Bevölkerungsgruppen und deren Gesundheit erheben und analysieren.
Schritt 1: Analyse der Vulnerabilität
Es gibt verschiedene Arten von Vulnerabilität. In einem ersten Schritt wird analysiert, welche Personengruppen in einer Pandemiesituation besonders vulnerabel sind und wodurch sich ihre Vulnerabilität erklären lässt.
Folgende, nicht abschliessende Beschreibung wichtiger Vulnerabilitätsfaktoren kann zur Analyse herangezogen werden. Die Bedeutung dieser Faktoren kann sich je nach Erreger und im Pandemieverlauf verändern, auch können neue Vulnerabilitätsfaktoren hinzukommen. Die Faktoren können einzeln, vor allem aber auch in Wechselwirkung eine erhöhte Vulnerabilität bewirken:
- Körperliche Vulnerabilitätsfaktoren beziehen sich auf die Anfälligkeit des Körpers für Krankheiten, Verletzungen oder Einschränkungen. Dazu können z. B. Menschen mit geschwächtem Immunsystem, chronischen Krankheiten oder ältere Personen oder Kinder gehören.
- Psychische Vulnerabilitätsfaktoren beschreiben die Anfälligkeit eines Menschen für psychische Erkrankungen, Stress oder emotionale Belastungen und damit ihre eingeschränkten Möglichkeiten, mit belastenden Situationen in einer Pandemie umzugehen.
- Kognitive Vulnerabilitätsfaktoren beschreiben kognitive Einschränkungen (z. B. Demenz oder kognitive Beeinträchtigungen), die dazu führen, dass Menschen mehr Schwierigkeiten haben mit ungewohnten Verhältnissen und Massnahmen in einer Pandemie umzugehen.
- Soziale Vulnerabilitätsfaktoren beziehen sich auf die Anfälligkeit von Menschen, durch soziale Benachteiligung oder Diskriminierung gesundheitliche Beeinträchtigungen oder Notlagen zu erleiden. Die sozialen Faktoren haben einen entscheidenden Einfluss auf die Gesundheit. Sie sind stark von politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geprägt und können von Individuen nur wenig beeinflusst werden. Die Checkliste Pandemiebewältigung: Wichtigste soziale Vulnerabilitätsfaktoren listet die Faktoren auf und beschreibt ihre Wirkung auf die Gesundheit in einer Pandemiesituation.
Schritt 2: Zielgruppengerechte Massnahmen
Nachdem die Vulnerabilitätsfaktoren und die davon betroffenen Personen und Personengruppen ermittelt worden sind, ist zu überprüfen, ob ihnen die beschlossenen Massnahmen zugutekommen, also zielgruppengerecht sind. Dabei muss auch analysiert werden, ob durch die Massnahmen nicht neue Personen oder Personengruppen benachteiligt werden.
Bestehende Massnahmen sind so anzupassen, dass sie die unterschiedlichen Bedürfnisse, Lebensbedingungen und Möglichkeiten von vulnerablen Personen/Gruppen bestmöglich berücksichtigen. Beispielsweise werden bestehende Impfangebote über Kommunikationskanäle der vulnerablen Zielgruppen kommuniziert und kostenlos, d. h. ohne Selbstbehalt, angeboten. Anmeldeprozesse sind mehrsprachig, einfach verständlich und barrierefrei. Auch nicht-digitale Anmeldungen sind möglich.
Falls dies nicht ausreicht, werden spezifische Massnahmen für vulnerable Bevölkerungsgruppen umgesetzt. Beispielsweise werden Informations- und Impfangebote in Settings angeboten, wo sich vulnerable Zielgruppen befinden. Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, die im Kontakt mit den Zielgruppen stehen, sprechen die Zielgruppen an und vermitteln Informationen und Angebote.
Die Checkliste Pandemiebewältigung: Chancengerechte Ausgestaltung von Massnahmen gibt einen Überblick zur zielgruppengerechten Ausgestaltung von Massnahmen.
Schritt 3: Monitoring
Monitorings der Massnahmen berücksichtigen körperliche, psychische, kognitive und soziale Vulnerabilitätsfaktoren. Sie überprüfen, wie vulnerable Bevölkerungsgruppen von der Pandemie betroffen sind, ob ihnen die ergriffenen Massnahmen zugutekommen und welche Auswirkungen diese auf sie haben. Quantitative Daten werden direkt oder über Datenverknüpfungen erhoben. Vertreterinnen und Vertreter der Zielgruppe und ihnen nahestehende Fachpersonen, Institutionen und Organisationen geben qualitative Informationen. Massnahmen werden basierend auf den Ergebnissen bei Bedarf angepasst.
Vulnerable Gruppen
Exemplarisch sind hier einige Zielgruppen aufgelistet, die von verschiedenen Vulnerabilitätsfaktoren betroffen sind:
Ältere Menschen
Mit steigendem Alter steigt das Risiko, von nicht-übertragbaren Krankheiten betroffen zu sein. Solche Vorerkrankungen können im Pandemiefall körperlich vulnerabel machen. Ältere Menschen sind jedoch keine homogene Gruppe. Die Vulnerabilität ergibt sich vielmehr aufgrund des individuellen Gesundheitszustands, des Unterstützungsbedarfs, der sozialen Einbettung, der psychosozialen Ressourcen oder der sozialen und finanziellen Situation. Die Definition von Altersgrenzen für die Vulnerabilität kann zu Stigmatisierung oder Ausgrenzung führen sowie die Mobilität und den sozialen Austausch einschränken. Wichtig ist deshalb ein Bewusstsein für die Heterogenität von Lebenswelten im Alter. Massnahmen sind unter Einbezug der Organisationen im Altersbereich zu definieren.
Menschen in sozialmedizinischen Institutionen
In sozialmedizinischen Einrichtungen müssen Schutzmassnahmen nicht nur dem Selbstschutz und der Selbstbestimmung, sondern auch dem Schutz der anderen Bewohnenden sowie des Personals Rechnung tragen. Die Ausgestaltung von Schutzmassnahmen bei gleichzeitiger Wahrung der Selbstbestimmung in der Privatsphäre erfordert ein stetes Abwägen und eine gute Kommunikation. Empfohlen wird, dass die Betroffenen mit einbezogen werden – idealerweise gibt es bereits Gefässe oder Strukturen (z. B. ein Rat aus Bewohnenden und Angehörigen), auf die zurückgegriffen werden kann. Bei den Schutzmassnahmen ist zu unterscheiden zwischen der Langzeitpflege im Altersbereich und der sozialen Betreuung von (oft jüngeren) Menschen mit Beeinträchtigungen oder Behinderungen. Nicht jede Person mit einer Beeinträchtigung oder Behinderung gehört zu einer vulnerablen Gruppe; die Vielfalt an Lebens- und Betreuungssituationen ist gross. Gesetzliche Vertretungspersonen und Beistände müssen jederzeit Zugang zu urteilsunfähigen Personen haben.
Kinder und Jugendliche
Kinder und Jugendliche sind keine homogene Gruppe (siehe Glossar). Ihre Bedürfnisse sind je nach Alter, Entwicklungsphase, sozioökonomischem Kontext oder körperlicher und psychischer Gesundheit unterschiedlich.
Kinder können aufgrund ihres sich entwickelnden Immunsystems und spezifischer physiologischer Merkmale eine erhöhte körperliche Vulnerabilität aufweisen. Gleichzeitig können sie auch sozial und psychisch besonders vulnerabel sein. Denn sie sind in hohem Mass von Erziehungsberechtigten sowie anderen Bezugspersonen wie Lehr- und Betreuungskräften abhängig. Und sie unterliegen besonderen Pflichten wie etwa der Schulpflicht. Auch urteilsfähigen Kindern erhalten nicht immer die Gelegenheit, Entscheide für sich, ihre Gesundheit und ihr Leben zu treffen. Ihre Rechte werden damit nicht immer respektiert. Besonderes Augenmerk gilt Kindern und Jugendlichen in prekären Lebenslagen. Kinder haben weniger Kompetenzen, um Situationen und Informationen einzuschätzen und weniger Ressourcen, um mit abrupten Änderungen in ihrem Umfeld und in ihrer Routine umzugehen, wenn sie nicht entsprechend unterstützt und begleitet sind. Zudem ist die wahrgenommene Dauer von Einschränkungen umgekehrt proportional zum Alter eines Kindes oder Jugendlichen.
Neben diesen Faktoren haben Kinder aufgrund ihrer Entwicklung und des jeweiligen Entwicklungsstadiums ein höheres Bedürfnis als Erwachsene an Bewegung. Jugendliche haben ein höheres Verlangen nach sozialem Austausch mit Gleichaltrigen als Erwachsene. Kinder und Jugendliche sind daher anfälliger für die Auswirkungen von Pandemiebewältigungsmassnahmen wie Isolierung oder Quarantäne. Nicht zuletzt haben sie ein Recht darauf, altersgerecht informiert zu werden.
Die Besonderheiten von Kindern und Jugendlichen sollten bei allen Aspekten der Pandemiebewältigung berücksichtigt werden. Ihre Mitsprache und Beteiligung sollte vorgesehen werden, um Stigmatisierung zu vermeiden, die Umsetzung der Massnahmen zu unterstützen und die psychische Gesundheit zu stärken.
Benachteiligte Migrationsbevölkerung
Personen aus der sozial benachteiligten Migrationsbevölkerung haben nicht die gleichen Möglichkeiten und Voraussetzungen, um gesund zu bleiben oder gesund zu werden, Massnahmen umzusetzen oder von Massnahmen zu profitieren. Sie sind meist von mehreren sozialen Vulnerabilitätsfaktoren gemäss Checkliste Pandemiebewältigung: Wichtigste soziale Vulnerabilitätsfaktoren betroffen. In Zusammenarbeit mit Vertreterinnen und Vertretern der Migrationsbevölkerung, ihrer Vereine und Medien, den Behörden im Asyl- und Integrationsbereich sowie mit Nichtregierungsorganisationen, Anlaufstellen und herkunftssprachlichen Hausärztinnen und Hausärzten können Angebote und Massnahmen zielgruppengerecht erarbeitet, umgesetzt und zugänglich gemacht werden.
Sans-Papiers
Personen, die sich ohne eine Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz aufhalten (Sans-Papiers) sind von zahlreichen Vulnerabilitätsfaktoren betroffen. Sie sind beispielsweise kaum gegen finanzielle Folgen eines Erwerbsausfalls geschützt. Viele von ihnen haben auch keine obligatorische Krankenpflegeversicherung. Sans-Papiers verzichten aus Angst vor einer Anzeige des illegalen Aufenthalts und aufgrund mangelnder Kenntnisse des Schweizer Gesundheitssystems oft auf die ihnen zustehende Gesundheitsversorgung.
Das Personal des Gesundheitswesens ist nicht berechtigt, den Aufenthaltsstatus von Sans-Papiers den Migrationsbehörden zugänglich zu machen. Artikel 59 Epidemiengesetz (EpG, SR 818.101) hält fest, unter welchen Voraussetzungen sich die für den Vollzug des EpG zuständigen Behörden gegenseitig Personendaten bekannt geben dürfen. Das EpG enthält keine gesetzliche Grundlage für die Weitergabe von Daten an andere Behörden zu Zwecken, die nicht dem Vollzug des EpG dienen. Auch das Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG; SR 142.20) verpflichtet nicht zu einer automatischen Information der Migrationsbehörden über medizinische Massnahmen bei Sans-Papiers (Art. 97 Abs. 1).
Diese Sicherheit ist zentral, um auch Sans-Papiers mit Massnahmen zu erreichen. Zudem soll zusätzlich mit Beratungs- und Anlaufstellen für Sans-Papiers zusammengearbeitet werden, insbesondere mit solchen, die für die Gesundheitsversorgung von Sans-Papiers zuständig sind.
Menschen in Palliative Care Situationen
Menschen, die der Linderung einer unheilbaren Krankheit bedürfen oder am Ende ihres Lebens stehen, sind besonders vulnerabel. Ihre Bedürfnisse sind besonders zu berücksichtigen, auch nach einem allenfalls letztmaligem Kontakt zu nahestehenden Personen. Das Abwägen von Schutzmassnahmen – die auch den Schutz von Personal und nahestehenden Personen umfassen – muss sorgfältig und unter Einbezug von Fachpersonen der Palliative Care geschehen.